Liebe Menschen,
seit Tagen nehme ich mir vor, mich in Ruhe hinzusetzen und all das aufzuschreiben, was mir auf der Seele brennt. Ich fühle mich fast verpflichtet, kundzutun, was gerade in meiner Welt passiert, weil es so viel zu tun hat mit dem, was gerade auf unserer Erde geschieht.
Ich möchte euch erzählen, warum ich mich nicht hinsetzen und einfach zeichnen kann, weswegen ich nicht in Markt-vorbereitungen verschwinde oder irgendwelche Liebesbotschaften in die (Internet-) Welt versende.
Alles begann vor knapp zwei Wochen, als ich mich mit meiner Freundin V. treffen wollte und sie vorschlug, anstatt gemütlich gemeinsam Tee zu trinken, nach Traiskirchen zu fahren um Deutschkurse für die Flüchtlinge dort abzuhalten. Sie erzählte mir von dieser Privatinitiative, die ein paar Studenten Anfang August aus dem Boden gestampft hatten und die sich seitdem täglich im Park in Traiskirchen mit Flüchtlingen zusammensetzen und ihnen Deutsch beibringen.
Schöne Idee, dachte ich.
Aber auch, dass ich damit überhaupt nichts zu tun haben möchte.
Ich hatte Angst, schlicht und ergreifend.
Genau das sagte ich ihr auch, sie verstand mich, sie selbst war ja auch unerfahren im Umgang mit traumatisierten Menschen.
Wir telefonierten mehrmals an diesem Tag und irgendwann, ganz plötzlich, war es wie eine Gewissheit – ich konnte nun nicht mehr NICHT nach Traiskirchen fahren. Irgendetwas in mir hatte sich längst dafür entschieden.
Und so fuhren wir am nächsten Tag mit einer Gruppe von Leuten aus Wien mit dem Zug nach Traiskirchen.
Schon am Bahnhof begrüßten uns kleine Gruppen von jungen Männern und Buben auf Deutsch und grinsten uns ins Gesicht.
Unsere Aufgabe war nun, auf den Straßen Menschen anzusprechen und ihnen von unserem Deutschkurs zu erzählen und im Idealfall gleich mit ihnen in den Park zu spazieren.
V. stürzte sich von einer Gruppe auf die nächste und plötzlich war sie umgeben von bestimmt 20 Burschen, die ihr den Weg zum Park zeigen wollten.
Da stand ich plötzlich alleine.
Und ich schaute um mich herum, sah überall müde und freundliche Gesichter, Kinder, die auf der Straße saßen, verschmutzte Gassen und ganz viel Ungerechtigkeit. Und dann war da dieser Kloß im Hals und es hätte nicht viel gefehlt und ich … ich entschied mich dagegen. Ich beschloss, diesen unnötigen Kloß hinunterzuschlucken und, wo ich nun schon mal da war, mich nützlich zu machen.
Also ging ich auf ein paar Jungs zu, erzählte ihnen vom Deutschkurs und schon hängten sie sich an mich. Und so ging es weiter, bis ich ein kleines Grüppchen um mich hatte und wir gemeinsam Richtung Park liefen.
Dort waren schon ein paar Kurse im vollen Gange – da saßen kleine Gruppen im Kreis, schupften mit einem Ball hin und her und überall hörte man Worte in Deutsch, Englisch und Persisch.
Meine Gruppe bestand aus 6 Jungs, bis auf einen waren alle aus Afghanistan – drei von ihnen konnten sehr gut Englisch. Nennen wir sie bei ihrem Anfangsbuchstaben – sie bleiben nämlich weiter wichtig in der Geschichte. S. Y. M. A. Z.
Keiner der fünf hatte zuvor an einem Deutschkurs teilgenommen, also übten wir die allerersten Phrasen.
Ich heiße…
Ich komme aus…
Ich bin … Jahre alt.
Zwei Stunden lang übten wir diese Sätze, tranken Tee aus Thermoskannen, aßen Datteln und Nüsse und lachten viel.
Der Nachmittag verging wie im Flug.
Zum Abschluss fragte ich, ob sie noch irgendetwas wissen möchten und S. antwortete Your number.
Ich zögerte nur einen kleinen Moment und dann schrieb ich allen meine Nummer und meinen Facebook-namen auf.
Wir verabschiedeten uns und alle bedankten sich mehrmals für diesen Nachmittag.
Auf dem Weg nach Wien sprachen wir viel und auch irgendwie wenig, wir alle waren sehr berührt, hoffnungsvoll, betrübt und traurig – kurz: wir alle schwammen in einem Wechselbad der Gefühle.
Das einzige was wir alle zu hundert Prozent wussten war, dass wir etwas sehr richtiges und wichtiges getan hatten.
Und auch, dass es bestimmt nicht bei diesem einen Mal bleiben sollte.
Und diese Gewissheit bestätigte sich schnell.
V. und ich waren in dieser einen Woche fünf- bzw. sechsmal in Traiskirchen.
Meist wegen den Deutschkursen, doch bin ich einmal auch nur hingefahren um „meine Buben“ zu besuchen und mit ihnen auf die all-freitagliche „Refugees-party“ zu gehen, bei der sich alle möglichen Organisationen zusammentun um den Fllüchtlingskindern einen sorgenfreien, bunten Nachmittag zu schenken.
Da waren wir und wir spielten Fußball, ließen uns schminken, aßen Süßigkeiten, manche tanzten, manche malten.
Es war natürlich nicht immer nur lustig und bunt und schön.
Es war genauso auch schmerzhaft, trist und grausam. Nämlich dann, wenn die Jungs anfingen, mir ihre Geschichten zu erzählen.
Als ich begann, hinter den strahlenden, jungen und doch so erwachsenen Gesichtern, tieftraurige, verlorene und hoffnungsvolle Kinder zu sehen.
Als wir begannen, ehrlich zu sein, Gefühle zu zeigen – auch die, die weh tun. Als wir begannen wirklich Freunde zu werden.
You know, I´ve got a big problem right here. (Er zeigt auf sein Herz)
It came and sat down. The problem sat down here. It won´t go away.
It just came and sat down. It really hurts.
You know, it is broken. My heart is broken. I cannot open it.
Here, this boy is my friend, but i can´t open my heart for him. It is broken.
I can´t open my heart for anybody.
We all have our problems in here. You´re not the only one. Everybody has a pain in his heart or in his head.
Problems come, problems go. Nothing is forever.
Liebeserklärungen auf Persisch, genauer gesagt in Farsi.
Ich lerne jetzt Farsi. Ich kann schon die Wochentage aufzählen, Liebeserklärungen machen und sagen, dass ich jemanden umarme.
Und im Oktober starte ich einen richtigen Sprachkurs und werde auch diese wunderschöne und schwierige Schrift lernen.
Umarmungen, erst distanziert und doch mittlerweile mit jedem Mal vertrauter und offener.
Meine Mama, die plötzlich mitkam nach Traiskirchen. Sich ein Namensschild mit „Mama“ auf den Busen klebte und den ganzen Nachmittag über alle immer wieder umarmte.
Muskan, die so engagiert ist, andauernd irgendetwas organisiert, tausend Ideen und Vorschläge und außerdem immer so ein Leuchten in den Augen hat, wenn wir in Traiskirchen sind.
Menschen, die zu mir in die Arbeit gekommen sind, um Kleidung und Reisetaschen vorbeizubringen. Freunde, ebenso wie Menschen, die ich gar nicht kannte, die aber meinen Beitrag auf Facebook gelesen haben.
Die Freude von M. an dem Mini-video-Deutschkurs, den ich für die Jungs gestartet habe, damit sie auch unter der Woche ein bisschen weiterüben können.
Komplimente.
Großzügigkeit.
Hilfsbereitschaft.
Dankbarkeit.
Zusammengehörigkeit.
Letzten Montag waren wir bei der Demo.
Drei meiner Jungs sind heimlich nach Wien gefahren - eigentlich dürfen sie den Bezirk Baden nicht verlassen - und wir sind, gemeinsam mit meiner Chefin vom Buchladen, mit Muskan und mit meiner Mama bis zum Parlament spaziert, wo wir ein kleines Lichtermeer eröffnet haben.
Wir hatten Trillerpfeifen und wir grölten und klatschten und pfiffen bis uns die Ohren fast abfielen.
Wir waren so glücklich und gerührt. Meine Tränen habe ich auch an diesem Abend erfolgreich runtergeschluckt. Diesmal waren es allerdings Freudentränen.
Diese Nacht war so friedlich und laut und bunt und glücklich und voll von Liebe und guter Energie.
Es war eine der schönsten Nächte meines Lebens.
Und genau das war es, was auch S. mir ins Ohr flüsterte, als wir die drei spätnachts mit dem Auto wieder in Traiskirchen absetzten.
Strahlende Gesichter.
Glasige Augen.
Lautes Singen, Schreien und Jubeln.
Ein Kuss auf die Wange.
Luftballons.
Weiße Fahnen.
Lachen.
Transparente und Plakate.
Freude.
Umarmungen.
Seit ich zum ersten Mal in Traiskirchen aus dem Zug gestiegen bin, hat sich alles verändert.
Meine Gedanken, mein Tun aber vor allem: meine Welt.
Sie ist roher geworden, härter - aber auch echter und lebendiger.
Da sind täglich Anrufe von 4 jungen Burschen, die ich gerade erst kennengelernt habe und die mir schon jetzt so ans Herz gewachsen sind, dass ich dafür kämpfe, dass sie irgendwo in Wien Unterkunft finden.
Ich habe nie wirklich Nachrichten gelesen – doch seit ich irgendwie ein bisschen mithelfe, versinke ich regelrecht im Strom der Neuigkeiten. Einerseits in diesen wundervollen Berichten über die Hilfsbereitschaft, die gerade durchs Land greift und andererseits in diesen furchtbar grausamen Zuständen, die einen an eine längst vergangene Zeit denken lassen und einem jede Hoffnung auf Menschlichkeit bzw. die Fähigkeit der Menschen aus der Geschichte zu lernen, nehmen.
Ich erzähle euch das, weil es mir wichtig ist.
Weil ich nicht das Gefühl habe, dass diese ganze Geschichte bald vorbei ist.
Und weil ich mir wünsche, dass sich alle alle alle trauen aufzustehen für diese Menschen, die alles verloren haben.
Dass alle spüren, dass wir miteinander verbunden sind, dass wir alle zusammengehören und deswegen alles dafür tun müssen, dass diejenigen, denen es gerade so schlecht geht, wieder ein Zuhause haben, irgendwann. Auch wenn es für den einzelnen schwierig ist, ein Zuhause in räumlicher Form zu geben, so kann man sich doch schon in einem Lächeln, in der Gegenwart eines Menschen, der wirklich zuhört, in einer Umarmung oder in einer Runde Fußball spielen zuhause fühlen.
Und diese „Kleinigkeiten“ können wir alle geben ohne irgendetwas zu verlieren.
Sandra (Freitag, 04 September 2015 09:38)
Vielen Dank dafür, dass du das alles aufgeschrieben hast und mit uns teilst. Ich habe beim Lesen nichts runtergeschluckt - mich von deinen Worten berühren lassen und geweint.
Irgendetwas ist in diesem Sommer zu Ende gegangen - und das Neue ist noch nicht geboren. Lasst uns nicht aus Angst oder Unsicherheit heraus handeln, sondern aus unseren Herzen. Nur die Liebe heilt.
Sahra Joy (Freitag, 04 September 2015 10:16)
Eine wirklich schöne, traurige, herzergreifende aber auch motivierende Geschichte ich war auch auf der Demo am Montag und meine Gefühle schwankten von zu Tode betrübt zu überglücklich und wusste nicht ob ich vor Freude oder Trauer Pipi in den Augen hatte aber was ich sagen will ist vielen Dank
Jth (Dienstag, 17 Mai 2016 22:37)
Dein Text hat mich total berührt. Und mich an so vieles erinnert, was sich auch bei mir verändert hat. Seit September. Seit wir diese neuen Nachbarn bekommen haben. Von denen so viele jetzt Freunde sind. Das mit diesen vielen Gefühlen...Freude, dass man sich kennengelernt hat, helfen kann und soviel zurück bekommt. Aber auch Angst. Vor der Ungewissheit, wie es mit unseren neuen Freunden weitergeht. Wie es auf der Welt weitergeht. Und Ärger über die vielen Bekloppten im eigenen Land, deren einzige Sorge ist, man würde ihnen etwas wegnehmen.
Es ist so wichtig, dass Leute wie du sich zu Wort melden. Danke dafür.